Stories

Das Lager war schon ein ganz besonderer Ort. Da gab es die Frau, der die Bewunderung und der Neid der Lagerbewohnerinnen als Lebenselexier diente, den jungen Mann, der vom Teufel besucht wurde und die litauische Seele, die jeden Sonntag gestreichelt wurde.

Folgende Geschichten sind von mir nicht ausgedacht; ich habe sie selber erlebt oder sie mir von Bewohnern des Lagers erzählen lassen. Alles, was Sie hier lesen ist wahr und hat sich so zugetragen.

1. Bekleidungsausgabe

2. Der Teufel besucht das Lager

3. Fahnenapell - Das immer wiederkehrende Ritual




Bekleidungsausgabe


Gleich zu Beginn der Nachkriegszeit ab1946 waren ausländische Hilfsorganisationen in den Westzonen Deutschlands tätig, um das Elend im Land zu vermindern. Kirchen und Verbände  in England, Südamerika, Dänemark und den Niederlanden sammelten Spenden für die vielen Flüchtlingslager, so auch die des Verwaltungsbezirks Oldenburg; aus den USA kamen Care- Pakete mit Lebensmittel und Kleidung.

Das Lager bei Wehnen erhielt ebenfalls Bekleidungspakete aus den USA. Die litauische Organisation „Balfas“ übernahm dort Sammlung und Transport gebrauchter Bekleidung. Regelmäßig erreichten Pakete voll mit Bekleidung das Lager bei Wehnen.

Wenn eine Ladung voll alter Klamotten im Lager angekommen war, schlug die Stunde des Lagerkommandanten. Er lief durchs Lager, klopfte an Türen und verkündete wie ein Erzengel die Ankunft einer neuen LKW-Ladung Kleidung. „Ateikit desimta valanda sestadieni“ kommt am Samstag um zehn Uhr!“ war die Parole.

Zur festgesetzten Uhrzeit strömten die Frauen zur „sale“- unserer Versammlungshalle. Die Tische waren voll belegt mit Kleidern, Schuhen, Taschen und manchmal sogar Pelzmänteln. Die Frauen drängten und schubsten sich vor den langen Tischen. Jede wollte etwas Schönes ergattern.

Allerdings waren die schönsten Pelze immer schon weg, und das ganze Lager wusste es im vorhinein, weil es jedes mal so gehandhabt wurde. Herr Kazirskis, der in den ersten Jahren des Bestehens des Lagers der Magazinleiter war, ließ seine Frau einen Tag vorher in die Halle. Offiziell hieß es, sie würde die Sachen auf die Tische räumen. Allerdings geschah das unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Kein anderer Mensch war dabei und keiner half. Das war eine äußerst seltene und seltsame Sache. Im Lager tat man nie etwas ganz alleine. Es war immer jemand dabei, oder in der Nähe oder schaute von weitem zu. Jeder lebte das Leben des Nächsten mit, oder bekam zumindest mit, was er gerade tat.

In diesem Fall war es nicht so. Frau Kazirskis ging mutterseelenallein in die große Halle. Allen war klar: sie hat was zu verbergen. Und so war es in diesen Fällen auch tatsächlich.
Einen Tag bevor die Verteilung der Sachen im Saal stattfand, ging, nein stolzierte Frau Kazirskis auf den Strassen des Lagers. Sie ging auf und ab, immer wieder, bis sich auch beim letzten Bewohner herumgesprochen hatte, dass sie einen neuen Pelzmantel besaß. Die Neugier ließ die Frauen aus den Baracken zur Strasse strömen, um den neuen Pelz zu beschauen. Frau Kazirskis, auf deren Kopf auch immer ein mindestens halb Meter große Hut prangte, verteilte huldvoll mit ihrem tiefrot angemalten Mund Grüße nach links und rechts. Sie konnte (und wollte auch nicht) verbergen, dass sie die neidvollen Blicke ihrer Geschlechtsgenossinnen außerordentlich genoss. Wir Kinder umringten sie und liefen im Pulk mit ihr durchs Lager.

Dieses Schauspiel wiederholte sich regelmäßig vor jeder Bekleidungsausgabe. Einzig meine Mutter verzichtete auf das Beschauen der Königin des Lagers.




Der Teufel besucht das Lager


Nun hatte sich einmal ein junger Mann eine wunderschöne Krawatte aus dem Berg Klamotten herausgeangelt. Sie war bunt, die vielen Farben in schönen blumenartigen Ornamenten geordnet. Freudestrahlend brachte er die „Trophäe“ vom Saalkampf nach Hause.

Dort bemerkte er, dass der so wunderschön glänzende Stoff durch das Liegen im Sack Falten warf. So beschloss er, das Bügeleisen anzuschließen und das so schwer vor den Anderen ergatterte Stück zu bügeln. Er fuhr also mit dem heißen Eisen die Krawatte entlang und oh Schreck! Die Krawatte war weg!

Wie konnte das sein. Er schaute auf den Küchentisch, nirgends eine Krawatte. Er schaute unter den Tisch: nichts, keine Krawatte. Ihm dämmerte, dass es sich hier nur um Teufelswerk handeln musste und lief schreiend durch den Lagerflur der 8. Baracke, wo wir wohnten: „Der Teufel ist in meiner Küche, der Teufel ist in meiner Küche. Er hat meine Krawatte mitge- nommen!“

Das Schreien hörte meine Mutter. Auf dem Flur fing sie den wild gestikulierenden jungen Mann ein und versuchte ihn zu beruhigen. „So schnell lässt sich der Teufel nicht blicken“, meinte sie; man sollte erst einmal genau nachschauen, was in der Küche geschehen ist.
Zusammen gingen sie in sein Zimmer.

Ich lief ihnen im Flur hinterher. „Der Teufel ist bei uns im Lager“, rief ich laut, damit alle Leute in den umliegenden Zimmern auch Bescheid wissen, das wir einen ganz speziellen Gast in der Baracke haben.

Meine Mutter schaute sich den Tisch an, blickte unter den Tisch, nichts von der Krawatte zu sehen. Sie nahm das Bügeleisen in die Hand, und blickte auf die Bügelsohle, nickte und sagte: „Genau.“ Dort war ein schwarz verkohlter Fleck zu sehen. Sie deutete darauf und sagte zu dem Mann: „Mag sein, dass der Teufel ein Auge auf dich geworfen hat und dich holen kommt. Aber nicht heute. Du hast den Schlips zu heiß gebügelt, und er ist an der Bügelfläche zusammengeschrumpft und verkohlt. Bleib weiter ein braver Junge, und du hast vor dem Teufel nichts zu befürchten.“

Der junge Mann war überglücklich, dass ihn der Teufel noch nicht besucht hatte und er mit heiler Haut aus dieser Sache herauskam.

Meine Mutter sagte mir schmunzelnd zu Hause, es gäbe jetzt eine neue Stoffsorte, die man Nylon nenne. Sie sei hitzeempfindlich und man solle den Stoff am Besten gar nicht bügeln. Diese neue Erfindung sei von Menschen gemacht und nicht vom Teufel.

Aber wer weiß, von wem in Zukunft etwas Neues gemacht wird.




Fahnenappell – das immer wiederkehrende Ritual
Nationalhymne Litauen



Die Menschen, die sich nach Beendigung des Krieges in Lager Wehnen wiederfanden, hatten den Verlust ihrer Heimat und damit auch ihrer traditionellen Wurzeln in ihr Leben einzuordnen. Die polnischen und ukrainischen Mitbewohner gingen der Sehnsucht nach der alten Heimat im Stillen nach, machten ihre gewohnten Arbeiten und versuchten damit über den Tag zu kommen.

Nicht so die litauische Gemeinschaft des Lagers. Sie waren in Gedanken noch im Kampf um die Selbständigkeit Litauens gegen die Russen. Zu Nahe war noch die Erinnerung an die Zeit der Okkupation des Landes durch den Erzfeind. Die Menschen hatten „damals“ aus Liebe zu ihrem Land (es war erst ein paar Jahre her) ihr Leben riskiert, um es wieder in die Freiheit zu führen, und nun waren sie hier. Weit weg von der geliebten Erde.

Die litauische Seele fand ein Ventil. Jeden Sonntag, nach der Kirche, versammelten sich die Litauer auf dem Exerzierplatz, der „maza aikstele“, vor der Verwaltungsbaracke. Jeder Litauer aus dem Lager kam, das war Ehrensache. Auch wir Kinder mussten jeden Sonntag dorthin. Ich ging nicht ungern mit, da die Veranstaltung jedes mal einen interessanten Verlauf nahm.

Grund war die Tatsache, dass wirklich jeder Litauer kam, außer er war krank. Das galt schon als Entschuldigung. Die Leute versammelten sich also um den Fahnenmast. Es musste schon stürmen oder schneien, bevor die Veranstaltung abgesagt wurde. Die Leute, die den Mast umstanden, hatten zur Feier des Tages ihren Sonntagsstaat angezogen. Jeden Samstag wuschen und bügelten unsere Mütter die speziellen Kleidungsstücke für den Sonntag, denn jeder beäugte den Anderen ganz genau. Was hat er denn vielleicht Neues an? Eine kritische Beleuchtung der vorgeführten Kleidung war anschließend das sonntägliche Gesprächsthema in allen Familien.

Richtig los ging die Veranstaltung erst, wenn sich  gegenüber vom  Platz eine Tür in der Verwaltungsbaracke öffnete. Alle schauten hin. Heraus kam immer ein Pulk Männer. Das waren unsere richtigen Patrioten. Sie kamen aus dem Trinkraum des Lagers, der so genannten „snargline“,  Nur ein mal verließen sie sonntags  ihre geliebte Kneipe, und zwar aufgrund der noch größeren Liebe zu ihrer Heimat. Langsam kamen sie angeschlurft. Abgerissen, verdreckt, nach Alkohol stinkend, näherten sie sich der versammelten Gemeinschaft, und stellten sich dazu.
Als erstes sprach der Kommandant ein paar patriotische Worte. Meist handelten sie davon, dass wir uns weit weg von unserer geliebten Heimat befanden und schwor uns darauf ein, gute und treue Litauer zu bleiben und nie unsere Heimat zu vergessen. Anschließend wurde die Fahne hochgezogen. Dies war ein sehr wichtiger patriotischer Akt. Jeder schaute interessiert hin, wer denn diesmal die Ehre hatte, es für Litauen zu tun.

Dann näherten wir uns dem Höhepunkt des Vormittags, dem Absingen der litauischen Nationalhymne. Mit tiefer Inbrunst und aus vollem Herzen singend, waren wir jetzt eine verschworene Gemeinschaft. Am lauteten brüllten die „labsardakai“, wie die betrunkenen Männer im Lager genannt wurden. Tränen rannen über die vom Leben gezeichneten Gesichter.

Wenn ich mich als Kind umschaute, blickte ich überall in weinende Gesichter. Das war jedes mal so und gehörte zum Ritual. Am Schluss waren alle zufrieden und glücklich und die Versammlung löste sich auf.

Für die litauische Seele bedeutete die sonntägliche Veranstaltung Labsal und Abwechselung zugleich. Die „labsardakai“ gingen danach in ihre Trinkhalle zurück, die Mütter nach Hause um das Mittagessen zuzubereiten, einige Ehemänner mussten noch unbedingt etwas in dem Geschäft bei Ludzevaitis einkaufen, wo an der Theke auch Schnaps ausgeschenkt wurde. Und wir Kinder?....

Wir liefen mit unseren schönsten Kleidern die Lagerstrasse auf und ab. Wir wussten, wir brauchten nicht lange warten, irgendwo würde sich schon eine Tür öffnen und ein betrunkener Mann purzelte heraus. Andere Männer folgten dann, schimpfend und fluchend und irgendeiner ließ seine Wut an dem ersten Mann aus. Die Fäuste flogen, das Blut rann, es gab Geschrei, und wir Kinder sahen gespannt zu, wer gewinnt. Dann war wieder etwas los im Lager.

Das war jeden Sonntag so.